(schwarz und szabo) - Hat die Bayerische Polizei beim Münchner Mord an dem türkischen Händler Habil Kılıç und dem Nürnberger Mord an dem Blumengroßhändler Enver Şimşek die Spur zu türkischen Verdächtigen von sich aus ins Spiel gebracht? Diese Frage stellte sich sowohl am 30. wie am 31. Tag im "NSU"-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. Außerdem wurde ein Zeuge zur Ermordung von Mehmet Turgut gehört, der am 25.02.2004 in Rostock erschossen worden war. Mit dem Rostocker Mord wurden bereits fünf der insgesamt zehn "NSU"-Morde in das Verfahren eingebracht.
An Tag 30 ging es zuerst aber nochmals um den "NSU"-Mord an Habil Kılıç am 09.08.2001. Eine Zeugin, die kurz nach dem Mordanschlag zwei Männer mit Fahrrädern unter ihrem Fenster gesehen hatte, verwickelte sich bei ihrer Aussage vor Gericht in Widersprüche...oder die Polizei protokollierte das, was sie aussagte falsch.
Die 67-jährige Frau hatte laut Protokoll zur Münchner Polizei gesagt, die Männer die sie gesehen habe, könnten türkischer Abstammung sein. Bei ihrer Aussage vor Gericht erklärte die Frau selbstbewusst, dass es Osteuropäer gewesen sein könnten, die sie damals mit ihren Fahrrädern gesehen habe. Vehement widersprach sie ihren mehr als ein Jahrzehnt zuvor protokollierten Aussagen. Sie habe nie von Türken gesprochen, sagte sie. Beate Zschäpes Anwalt Wolfgang Stahl regte deshalb nach der Zeugenbefragung der 67-Jährigen an, den Polizeibeamten vor Gericht zu laden, der die Frau damals vernommen habe. Das Gericht solle klären, ob "türkisch" vielleicht erst durch den Beamten in das Protokoll eingetragen worden sei, forderte er.
Immerhin könnte die Beschreibung der beiden Männer durch die Zeugin grundsätzlich auf die beiden "NSU"-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zutreffen, welche insgesamt neun fremdenfeindlichen Morde begangen haben sollen. Auf die Frage des Opfer-Anwalts Yavuz Narin, woran sie Osteuropäer erkenne, erklärte die Zeugin, dass es die dunklere Hautfarbe sei. Sie habe Erfahrung beim Erkennen der Nationalitäten, weil sie beruflich viel mit Osteuropäern zu tun hatte.
Zu Beginn des 30. Verhandlungstages hatte ein Rechtsmediziner von der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgeführt, dass der damals 38-jährige Habil Kılıç lediglich durch zwei Schüsse getroffen worden sei, an denen er verstarb. "Der erste Schuss drang in der linken hohen Wangenregion ein und durchschlug den Gesichtsschädel", erklärte er. Danach sei das Opfer offenbar in die Knie oder hinter seiner Ladentheke in Deckung gegangen, worauf ein zweiter Schuss, als sog. "aufgesetzter Kopfschuss", ihn von hintern in den Kopf getroffen habe. "Ein solcher Hirndurchschuss ist nicht überlebbar, selbst wenn ein Team von Hirnspezialisten daneben gestanden hätte", berichtete er. Diese Reihenfolge der Schüsse bestätigte anschließend ein Waffeningenieur des bayerischen Landeskriminalamtes. Er sagte auch aus, dass die verwendete Pistole vom Typ Ceska 83 bereits bei den vorangegangenen "NSU"-Morden in Hamburg an Süleyman Taşköprü sowie in Nürnberg in den Fällen Abdurrahim Özüdoğru und Enver Şimşek verwendet worden war.
Beate Zschäpe blickte während der ausführlichen Aussage der Experten angestrengt auf ihre Hände und machte den Eindruck, als ob sie solche Details lieber nicht hören wollte. Auf der "Frühling"-DVD des "NSU" war das alles ja auch fast lustig dargestellt worden, denn dort enthüllt das rosarote Comictier Paulchen Panther ein Foto von Habil Kiliç unter dem man lesen konnte: "Habil K. ist nun klar, wie wichtig uns der Erhalt der deutschen Nation ist." Doch es ging weiter mit den Schilderungen rund um den Münchner Mord. In dem kleinen Laden im Stadtteil Ramersdorf-Perlach bediente sonst eigentlich Kiliçs Frau, doch diese war zum Tatzeitpunkt schwanger und mit der zwölf Jahre alten Tochter in der Türkei, Kiliçs Heimat. Der Familienvater wurde nur 38 Jahre alt...genauso alt, wie Beate Zschäpe heute ist.
Später am 30. Verhandlungstag sagteFrau K. als Zeugin aus, die in der Nachbarschaft wohnt und regelmäßig in dem Lebensmittelladen einkaufte. Sie fand den Sterbenden an jenem Vormittag des 29.08.2001, als sie ein Fladenbrot und für ihre Kinder ein paar Süßigkeiten kaufen wollte. "Zuerst habe ich ihn nicht gesehen, habe nur ein Geräusch gehört", sagte sie aus. Hinter dem Holztresen habe sie ihn dann inmitten einer riesigen Blutlache gefunden und der Gemüsehändler habe geröchelt.
Genau in dem Moment kam ein Postbote hinzu, der nach Frau K. in den Zeugenstand gerufen wurde. Ein grausiger Anblick sei es gewesen, sagte er dem Gericht. Es habe nach Schießpulver gerochen und nach Blut. Habil Kiliç hätte aus Mund, Nase und Ohren geblutet. Der Postbote wollte Erste Hilfe leisten, aber dafür sei es schon zu spät gewesen, der Familienvater habe sich nur wenige Augenblicke später nicht mehr gerührt, berichtete er.
An Verhandlungstag 31 wurde zum erneuten Mal der Mordfall Enver Şimşek verhandelt. Dieses Mal saßen die Kinder des ersten "NSU"-Mordopfers zum ersten Mal seit Prozessbeginn wieder mit im Gerichtssaal und wollten sich dem Polizisten Albert V. zeigen, der jahrelang Ermittlungen gegen sie und ihre Mutter führte; an Verhandlungstag 31 war dieser Polizist als Zeuge geladen.
Misstrauisch war V. von Anfang an gegenüber den Angehörigen des Mordopfers gewesen. Das geht aus polizeinternen Papieren hervor, die dem Gericht vorliegen. "Die nahen Familienangehörigen geben der Polizei nicht die Wahrheit über ihr tatsächliches Wissen bezüglich eines Tatverdachts preis", schrieb er und regt an, diese bei Autofahrten und bei Telefonaten abzuhören, was auch geschah. Doch die Witwe und der Schwager und die Töchter des Toten sprechen wenig und offenbar vor allem nicht das, was V. hören will - der Abhörbeschluss wird immer wieder erneuert.
Für V. war alles in Familie Şimşek verdächtig. "Auffälligerweise", sagte V. vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss zu den "NSU"-Morden aus, habe Enver Şimşek seinen Blumengroßhandel an entfernte Verwandte verkaufen wollte. Außerdem hätte es immer wieder "Vermutungen Richtung PKK" gegeben, rechtfertigt er damals seine Ermittlungsstrategie. Hinweise auf Drogengeschäfte von Enver Simsek habe es ebenfalls gegeben, schließlich sei er regelmäßig zum Kauf von Blumen nach den Niederlanden gefahren.
V. sagte vor Gericht in etwa Folgendes aus: Der Ermordete habe einen Blumengroßhandel geführt habe mit insgesamt vier Verkaufsstellen, darunter drei mobilen. Am Tatort in Nürnberg habe der damals 38-Jährige zur Tatzeit nur aushilfsweise gearbeitet. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Enver Şimşek einmal pro Woche an der Blumenbörse in Holland Schnittblumen ersteigert habe. Diese seien dann in einer angemieteten Halle von türkischen Frauen zu Sträußen gebunden und an seine Kunden verkauft worden. Das seien rund 60 Wiederverkäufer gewesen, so der Beamte. Die Fahrten in die Niederlande hätten auch ein Indiz für Drogenhandel sein können, die Wiederverkäufer ein Beleg für Zwischenhandel. Das habe man ausschließen wollen, erzählte V. dem OLG. Schließlich sei man auf der Suche nach dem Mordmotiv gewesen, sagte er.
Dann enthüllte V., dass der Großhandel auf die Ehefrau des Opfers zugelassen war. Der Getötete selbst sei arbeitslos gemeldet gewesen, habe aber die Erlaubnis gehabt, einige Stunden bei seiner Frau arbeiten zu dürfen. Unabhängig von seinen Ermittlugen habe sich nach dem Tod Şimşeks ein Finanzstrafverfahren entwickelt, das dazu geführt habe, dass 65.000 Euro Steuern nachgezahlt werden mussten, sagte V. zu Richter Götzl.
Im Rahmen der Mordermittlungen sei man auf einen Konkurrenten des Blumengroßhändlers gestoßen, der den Getöteten bekämpft habe soll und angeblich auch einen Killer angeheuert hatte. "Letztlich mussten wir ihn aber ausschließen", so der Ermittler. Fast schon als Verteidigung für die hartnäckigen Ermittlungen gegen die Familie des Ermordeten sagte V. am Ende seiner Vernehmung nochmals: "In den Befragungen hatten wir das Gefühl, dass die Familie über Informationen verfügt, die sie uns nicht mitgeteilt hat.“ Aus "Blumenhändlerkreisen" hätten er und seine Kollegen der Mordkommission zudem erfahren, dass Enver Şimşek kurzzeitig eine Freundin gehabe habe, weshalb man eine Eifersuchtstat nicht habe ausschließen können und die Witwe des Ermordeten deshalb in Verdacht geraten sei. Auch Blutrache als mögliches Tatmotiv habe man ausschließen müssen.
Danach befragte ihn der Vorsitzende Richter Martin Götzl zum Mordfall an den Schneider Abdurrahim Özüdoğru, der am 13.07.2001 ebenfalls in Nürnberg erschossen worden war. Auch hier leitete V. die Ermittlungen und berichtete, dass es außer der Mordwaffe keine Verbindungen zwischen den Fällen gegeben. Allerdings hätten die Ermittler im Handy Özüdoğrus eine Telefonnummer aus Großbritannien gefunden, die sich als Nummer einer Gaststätte herausgestellt hätte, die aus einem dortigen Drogenverfahren registriert gewesen war. Daraufhin hätte die Kriminalpolizei alle Koffer des getöteten Schneiders untersucht und dessen Auto.
Man sei dabei auf geringe Rückstände von Kokain und Cannabis gestoßen, sagte V. aus, worauf Richter Götzl nachfragte, wie gering die Rückstände gewesen seien. Daraufhin musste V, einräumen, dass die gefundenen Spuren so gering waren, dass sie auch durch Abrieb, zum Beispiel von Geldscheinen, an die Stellen gekommen sein könnten. Zudem seien in beiden Mordfällen sämtliche von der Polizei gefundenen DNA-Spuren und Fingerabdrücke konkreten Personen zugeordnet worden, berichtete V., die allerdings alle nicht mit der Tat in Verbindung gebracht werden konnten.
Am Ende der ausgiebigen Vernehmung war klar: Jahrelang ließen sich V. und die ermittelnden Behörden von falschen Spuren in die Irre führen. Lange Zeit suchten sie deshab entweder nach Verbindungen zu Machenschaften organisierter Verbrechergruppen oder gingen - wie im Fall des Blumengroßhändlers - von Beziehungstaten aus, obwohl es bereits eine Mordserie in unterschiedlichen Städten gab. Fremdenfeindlichkeit als Motiv soll V. zufolge erst nach 2006 ernsthaft in Betracht gezogen worden sein. Erst mehr als sechs Jahre nach Enver Şimşeks Tod seien "strukturierten Ermittlungen in diese Richtung vorgenommen worden", wie V. es ausdrückte.
In der nächsten Woche folgt am 06.08.2013 in München der vorerst letzte Verhandlungstag vor einer einmonatigen Sommerpause.
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