Dienstag, 9. Juli 2013

"NSU" - Der Prozess # 22: Am 20. Prozesstag wurde zum ersten Mord des "NSU" verhandelt - Prozess läuft mindestens bis Ende 2014



(tim schwarz) - Verhandlungstag 20 im "NSU"-Prozess vor dem Oberlandesgericht München in der Nymphenburger Straße 16: Am 09.09.2000 wurde in Nürnberg Blumenhändler Enver Şimşek aus Schlüchtern/Hessen, so schwer niedergeschossen, dass er zwei Tage später verstarb.

Zwischen 12 Uhr 45 und 14 Uhr 15 hatten ihn acht Schüsse aus zwei Pistolen getroffen, als er an einer Ausfallstraße im Osten der früheren "Stadt der Reichsparteitage" an einem mobilen Stand Blumen verkaufte. Sofort nach der Entdeckung des Verbrechens wurde der 38-Jährige ins Klinikum Nürnberg gebracht, seine Verletzungen waren jedoch so schwer, dass auch die lebenserhaltenden Maschinen ihm nicht mehr helfen konnten. Şimşek starb als erstes Opfer der NSU-Terror-Serie, bei den Tatwaffen handelte es sich neben der in acht weiteren Fällen vom "NSU" benutzten Pistole Česká 83, Kaliber 62, um eine bis heute nicht näher identifizierbare Pistole des Kalibers 6.35.

Vor dem Münchner OLG startete heute nachmittag die Beweisaufnahme zum Mord an Enver Şimşek. Hierzu wurde ein, inzwischen pensionierter, Polizeibeamter gehört, der seinerzeit als erster die Ermittlungen am Tatort führte. Der Prozesstag hatte jedoch am Morgen mit der Vernehmung von Staatsanwalt Gerwin Moldenhauer begonnen, der den Mitangeklagten Holger Gerlach mehrfach verhört hatte. In den Verhören gestand Gerlach u. a., das Terror-Trio des "NSU" mit Ausweis-Papieren und einer Waffe versorgt zu haben, die er nach Zwickau transportierte. Neben einer schriftlichen Erklärung, die er bereits abgegeben hat, will Gerlach aber bislang vor Gericht keine weiteren Aussagen machen. Deshalb zitierte der Vorsitzende Richter Martin Götzl u. a. aus den Protokollen der Vernehmungen von Holger Gerlach.

Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wären "seit 2006 jedes Jahr" bei Gerlach in Hannover vorbei gekommen, jeweils im Sommer und zwar entweder auf dem Weg zur oder zurück von der Ostsee. "Wenn wir uns getroffen haben, hat Beate immer einen Kuchen gemacht, den wir dann gegessen haben. Wir haben Karten gespielt und uns einmal auch die Stadt angeschaut. Der Böhnhardt und der Mundlos, das waren Macher, Ideengeber, sie hatten Tatendrang", hatte der Angeklagte gegenüber Staatsanwalt Moldenhauer zu Protokoll gegeben, was dieser vor Gericht bestätigte. Gesagt habe er dies bereits am 14.11.2011, zehn Tage nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt.


Der 1974 in Jena geborene Holger Gerlach, Spitzname "Gerry", war tags zuvor von einem Sondereinsatzkommando verhaftet worden. Da das in Eisenach ausgebrannte Wohnmobil unter seinem Namen und mit seinem Führerschein angemietet worden war, lautete der Vorwurf an den Gabelstaplerfahrer: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Nur wenige Stunden zuvor war der Name der Vereinigung - "Nationalsozialistischer Untergrund" / "NSU" - bundesweit  bekannt geworden und die Generalbundesanwaltschaft hatte die Ermittlungen übernommen.

Zur Vorführung beim Haftrichter war unter anderem der,  heute im Schwurgerichtssaal A 101 des Münchner OLG als Zeuge gehörte, Staatsanwalt Gerwin Moldenhauer dabei. Durch ihn ist es möglich, selbst bei einem Schweigen des Angeklagten, zwei der rund ein Dutzend Vernehmungsprotokolle zu Gerlach offiziell in die "NSU"-Hauptverhandlung einzubringen; mehr als zwei brauche man nicht, meint die Bundesanwaltschaft.

Verwirrend für einige Beteiligten ist das Prozedere, bei dem sich Moldenhauer formal daran zu erinnern hat, was längst aktenkundig ist und allen Verfahrensbeteiligten vorliegt. Nur darf er als Zeuge die beiden Protokolle nicht benutzen. Daher fragt ihn Götzl Absatz für Absatz der Vernehmungsprotokolle ab, der Staatsanwalt im Zeugenstand bestätigt, dass Gerlach dies so gesagt habe,  und somit können die damaligen Aussagen später in das Urteil einfließen.

Auch bereits aus den Medien bekannt, aber nun eben im Prozess als Zeugnis ausgesagt: Holger Gerlach hat dem "NSU" eine Waffe geliefert und zwar, wie er sagt, habe der Mitangeklagte Ralf Wohlleben den Transport organisiert. Moldenhauer geht sogar noch einen Schritt weiter, sagt aus, "...der ganze Komplex gegen Wohlleben, das hatte ja seine Ursprünge in seinen Aussagen".

Doch vor allem sich selbst hatte Gerlach bei den beiden Vernehmungen belastet. Ohne Umschweife gab er zu, "den beiden Uwes" ab 2001 gleich zweimal seinen Reisepass überlassen zu haben (den Uwe Böhnhardt als "Gerry" für seine Zwecke nutzte), dazu noch seinen Führerschein und einen ADAC-Ausweis, für Zschäpe besorgte er eine Krankenkassen-Karte. Für den zweiten Pass im Jahre 2011 passte Holger Gerlach sogar sein Aussehen an das von Böhnhardt an, indem er sich unter anderem die Haare schnitt (siehe Foto). Hierzu sagte er aus: "Ich habe es aus einem Gefühl der Verbundenheit getan. Ich habe Ihnen den Führerschein gegeben, weil ich sie nicht enttäuschen wollte. (...) Ich habe den anderen gerne geglaubt, dass nichts Schlimmes passiert. Da habe ich mich selbst betrogen. Ich habe es verdrängt, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Man konnte schon davon ausgehen, dass das nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich habe es außen vorgelassen, was sie wohl tun würden."

Die jährlichen Besuche seiner alten Freunde aus Thüringen, mit denen er bis 1998 in der neonazistischen "Kameradschaft Jena" organisiert war (teilweise machte er sogar gemeinsam mit ihnen tageweise Urlaub auf Fehmarn), empfand Holger Gerlach lange nicht als etwas Schlimmes: "Die beiden Uwe's habe ich bewundert. (...) Die hatten Charakterstärke, Tatendrang und waren durchsetzungsfähig. (...) Mir ist schon aufgefallen, dass sie ständig neue Autos hatten, auch hochwertige. Zuletzt hatten sie einen nagelneuen BMW."

Diese Sätze, die Götzl flüssig aus dem Richterstuhl vortrug, seien damals vom Angeklagten "nur stockend und oft auf Nachfragen geäußert" worden, erinnerte sich der Staatswanwalt und fügte an: "Es war eine Zangengeburt"; eine "Zangengeburt", die auch nicht ganz in den Kontext zu Gerlachs eigenen Angaben zu passen schien, dass sich dieser schon "vor langem" aus der rechten Szene gelöst haben will.

Auch habe Gerlach während der Vernehmungen seine Aussage an mehreren Stellen geändert, wie Moldenhauer vor Gericht zu Protokoll gab. So habe dieser anfangs erzählte, dass Böhnhardt und Mundlos 2011 den Reisepass zufällig in seinem Auto gefunden hätten. In einer späteren Vernehmung und konfrontiert mit den dann vorliegenden Erkenntnissen, dass Gerlach für den Pass extra seine Haare hatte abschneiden lassen und sich ein Brille aufgesetzt hatte, räumte der jetzt Angeklagte schließlich ein, dass das Dokument eigens für Böhnhardt angefertigt worden war. Moldenhauer sagte auch aus, Gerlach habe erklärt, er hätte "bei den Dreien" - also auch bei Zschäpe - nachgefragt, was diese mit dem Pass vorhätten und man habe ihm gesagt, "Mach dir keine Gedanken, es passiert nichts Schlimmes damit. Ich solle ihnen vertrauen, so wie ich das früher auch getan habe."


Um die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ging es auch beim Thema, wie Gerlach die Waffe nach Zwickau brachte. "Die Beate hat mich am Bahnhof zu Fuß abgeholt und wir sind dann zu Fuß zu den Dreien gegangen" (siehe Abbildung), sagte er aus und fügte später an, dass Zschäpe auch bei der Übergabe der Pistole dabei gewesen sei, die einer der Uwes sofort durchgeladen habe.

Dass sich eine offensichtlich scharfe Waffe in dem Beutel befunden habe, den ihm Wohlleben gegeben hatte, will Holger Gerlach erst während der Zugfahrt herausgefunden haben. Und nach der Übergabe habe er "den Dreien" gegenüber auch eindeutig klar gemacht, "dass es so nicht funktioniert, dass man sich nicht anmaßen kann, mit fünf Leuten die Welt zu retten und dass ich mit Waffen nichts zu tun haben will. Ich hab denen gesagt, so einen Scheiß nicht noch mal mit mir. Das ist das letzte Mal".

Am Nachmittag begann dann die Beweisaufnahme zum ersten Mord in Nürnberg mit der Befragung eines Ruheständlers, und zwar des ehemaligen Polizeihauptmeisters W.. Dieser war, gemeinsam mit einem mittlerweile verstorbenen Kollegen, 2001 als erster am Tatort und sagte aus, ein Mann habe die Beamten alarmiert, weil er längere Zeit keinen Verkäufer an dem Blumenstand angetroffen hatte. Die Polizisten öffneten nach ihrem Eintreffen die Schiebetür des Wagens und fanden das noch lebende "NSU"-Opfer. W. zu Richter Götzl: "Im Laderaum lag Herr Şimşek auf dem Rücken und war im Gesicht blutverschmiert. Er lebte noch, hechelte noch." Anschließend zeigte ein Kriminalhauptkommissar Fotos, die er seinerzeit am Tatort gemacht hatte: die blutgetränkte Wolljacke des Opfers, Blutspritzer im Transporter, Fußabdrücke vor dem Wagen.

Nach den beiden rief das Gericht noch einmal René K. in den Zeugenstand, einer der beiden Handwerker, die in dem Zwickauer Haus in der "Frühlingsstraße 26" gearbeitet hatten, das Beate Zschäpe am 04.11.2011 in Brand setzte. Dies ist bisher die einzige Tat, die die Hauptangeklagte unmittelbar selbst begangen haben soll; darüber hinaus ist Zschäpe aber auch als Mittäterin an allen zehn Morden des "Nationalsozialistischen Untergrunds" angeklagt. Der Generalbundesanwalt wirft Zschäpe im Brand-Fall vor, den Tod von K. und anderen Personen dabei in Kauf genommen zu haben und die Angaben, die K. am 20. Prozesstag machte, waren nicht geeignet, diese These zu widerlegen. Dieser dämmte nämlich an jenem Tag in dem Eckzimmer des Dacjgeschosses "direkt über der Brandstelle", wie er sagte, die Wände, was keine lauten Geräusche verursacht habe. Damals habe es "ein Kommen und Gehen von Handwerkern" gegeben, sagte der Zeuge aus. Das war ein klarer Minuspunkt für Zschäpes Verteidigung, denn sicher konnte sich deren Mandantin also am 04.11.2013 nicht gewesen sein, dass sich nicht doch noch Personen in dem Haus aufhielten.

Am morgigen Mittwoch will das Gericht weitere sieben Zeugen zum Mordfall Enver Şimşek hören. Heute gab das OLG München zudem bekannt, dass der NSU-Prozess deutlich länger dauern wird, als ursprünglich angesetzt. Bislang hatte das Oberlandesgericht Termine bis Januar 2014 festgelegt, nun kamen weitere Termine bis Ende 2014 hinzu. Insgesamt habe der Vorsitzende Richter Manfred Götzl mehr als 100 weitere Verhandlungstage vormerken lassen, wie das Onlinemagazin STERN.de aus Gerichtskreisen erfahren haben will.

Die Termine für die nächsten drei Monate sind:

Mi., 10. Juli / Do., 11. Juli / Di., 16. Juli / Mi., 17. Juli / Do., 18. Juli / Di., 23. Juli / Mi., 24. Juli / Do., 25. Juli / Di., 30. Juli / Mi., 31. Juli / Do., 1. August / Di., 6. August 2013

Do., 5. September / Freitag, 6. September / Di., 17. September / Mi., 18. September / Do., 19. September / Montag, 23. September / Di., 24. September / Mi., 25. September / Montag, 30. September 2013

Di., 1. Oktober / Mi., 2. Oktober / Di., 8. Oktober / Mi., 9. Oktober / Do., 10. Oktober 2013
------------------------------------------------------------------------------------------------------------


( Anklicken und man wird weitergeleitet! )

Keine Kommentare: