(lsn / fsu) - Hermann Hesse, Jean Paul, Albert Schweitzer, Friedrich Nietzsche, Gudrun Ensslin und Angela Merkel haben etwas gemeinsam: Sie alle wuchsen in einem evangelischen Pfarrhaus auf.
Weil zahlreiche Dichter und Denker, Philosophen und Wissenschaftler im Pfarrhaus ihre Wurzeln haben, rankt sich ein Mythos um diesen Ort. Dieser Mythos wurde 2011 auf einer Tagung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena / FSU entzaubert. Nun liegt ein Buch über das Phänomen evangelisches Pfarrhaus vor, das den Untertitel „Mythos und Wirklichkeit“ trägt und verschiedene, interdisziplinäre Beiträge versammelt.
„Mit dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments 1918 rutschte die evangelische Kirche in Deutschland in eine Legitimationskrise, die unter anderem eine Neubesinnung auf das Pfarrhaus als Geburtsort der deutschen Dichter und Denker mit sich brachte“, sagt Prof. Dr. Christopher Spehr von der Universität Jena. Der Kirchenhistoriker hat gemeinsam mit Thomas A. Seidel, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für thüringische Kirchengeschichte und Geschäftsführenden Vorstand der Internationalen Martin-Luther-Stiftung, das Buch „Das evangelische Pfarrhaus“ herausgegeben. Spehr verortet die kulturelle Vertiefung des „Mythos Pfarrhaus“ in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.
Die Institution evangelisches Pfarrhaus reicht jedoch bis in die Reformationszeit zurück.
Über Jahrhunderte habe der Pfarrer im deutschsprachigen Raum eine Sonderstellung in seiner Gemeinde inne gehabt, sagt Christopher Spehr. Das Pfarrhaus sei gleichsam als „Glashaus“ wahrgenommen worden. Erwartete man vom Pfarrer doch eine beispielgebende Lebensführung. Dazu gehörten eine vorbildliche Ehe sowie die gottgefällige Erziehung der Kinder. Diese Sonderstellung des Pfarrhaushalts wurde auf Martin Luther zurückgeführt, dessen Ehe mit Katharina von Bora als mustergültig angesehen wurde.
Plastisch schildert die Historikerin Luise Schorn-Schütte, wie die Realität in den Pfarrhaushalten des 16. bis 18. Jahrhunderts aussah. Die Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger verweist in ihrem Beitrag im Buch darauf, dass der Pfarrer in den ländlichen Gemeinden als ein Fremder wahrgenommen worden sei. Ein Fremder, der die Zeit für so „unnütze Tätigkeiten“ wie Musik und Literatur aber auch Vogelkunde und Bienenzucht gehabt habe. Zugleich verwaltete der Pfarrer über die Kirchenbücher die Lebensdaten der Dorfbewohner.
Einst war die Frau des Pfarrers im Wortsinne die „gute Seele“ des Hauses. Ihr oblagen Kindererziehung und Hauswirtschaft, sie hatte dafür zu sorgen, dass dem Pfarrer im Amt kein Nachteil erwachsen möge. Inzwischen üben viele Frauen selbst das Pfarrersamt aus, während ihre Männer nicht selten in einem anderen Beruf arbeiten. Eine weitere Herausforderung ist die sinkende Zahl der Kirchenmitglieder. „Heute betreut ein Pfarrer oft mehrere Gemeinden“, sagt Christopher Spehr. So könne das Pfarrhaus nicht mehr Zentrum eines Ortes sein. Doch der Wandel im ländlichen Raum bietet durchaus Chancen: „Die Gemeinde selbst rückt wieder mehr ins Zentrum, wenn das Pfarrhaus an Bedeutung verliert“, sagt Prof. Spehr, der selbst in einem westfälischen Pfarrhaus aufgewachsen ist. Das Pfarrhaus bleibe trotz aller Veränderungen immer noch ein besonderer Ort.
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