Montag, 9. Juni 2014

Der "NSU"-Anschlag in der Kölner Keupstraße vor genau zehn Jahren: Bundespräsident Joachim Gaucks Rede "Birlikte - Zusammenstehen"


(LN / Bundespräsidialamt | 2014-06-09) - Heute, am zehnten Jahrestag des feigen Nagelbombenanschlags der von den Jenaer Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe geführten Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" in der Kölner Keupstraße mit 22, zum Teil lebensgefährlich veletzten Menschen - überwiegend Migranten -, kommt es vor Ort gegen 16 Uhr zu einem Kunst- und Kulturfest unter dem Titel "Birlikte – Zusammenstehen".

Zu der Kundgebung werden 70 000 Besucher erwartet. Am Programm beteiligen sich neben dem Bundespräsidenten unter anderem die Musiker Udo Lindenberg, Wolfgang Niedecken und Peter Maffay sowie der Schauspieler Hardy Krüger.

Die Polizei glaubte lange nicht an einen rechtsextremen Hintergrund. Erst Ende 2011 wurde deutlich, dass es die "NSU"-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren, die sich in einem nach ihrem Tod von Beate Zschäpe veröffentlichtem Bekennervideo unter der infamen Bezeichnung "Aktion Dönerspieß" zu dem Anschlag vom 09.06.2004 bekannten.

Lesen Sie hier Auszüge aus der Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck:

"Wir stehen zusammen in der Erinnerung an den Moment des Anschlages - heute vor zehn Jahren, mitten in einer deutschen Stadt, mitten unter uns. Wir fühlen mit denen, die damals an Körper und Seele verwundet wurden, mit ihren Familien und Freunden, mit den Anwohnern dieser Straße. Wir trauern um Menschen, die unter uns lebten, in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel, Heilbronn - Opfer einer beispiellosen Mordserie.

Wir denken an alle, denen diese Attentate auch galten, die sich nach dem Willen der Täter nicht mehr sicher und nicht mehr zu Hause fühlen sollten in Deutschland. Wir denken heute auch daran, wie viele Betroffene sich später allein gelassen oder sogar als Verdächtige behandelt fühlen mussten, wie viel Misstrauen damals gesät wurde. Mehr als zehn Jahre lang haben die Mitglieder einer rechtsextremistischen Bande unerkannt rauben, morden und Anschläge wie den in der Keupstraße begehen können. Von Fremdenhass getrieben, haben sie zu zerstören versucht, was uns in Deutschland wertvoll ist: das selbstverständliche Miteinander der Verschiedenen, die offene und freiheitliche Gesellschaft.

Heute stehen wir zusammen, um dieses Miteinander, diese Offenheit und diese Freiheit zu stärken: in diesem Viertel – und überall in unserem Land. Dass wir alle hier sind, ist auch eine Botschaft an die rechtsextremen Verächter unserer Demokratie. In meiner Antrittsrede als Bundespräsident habe ich ihnen zugerufen: Euer Hass ist unser Ansporn! Und deshalb erfüllt es mich mit Freude zu sehen, wie zahlreich wir hier zusammengekommen sind, und wie viele zu diesem Fest beigetragen haben: Bürgerinnen und Bürger, kleine und große Unternehmen, politische und öffentliche Institutionen und – ich schaue mich um – eine große Zahl von Künstlern. Wir sind die Vielen! Wir zeigen, wie wir in unserem Land leben wollen: respektvoll und friedlich. Wir sind verschieden. Aber wir gehören zusammen. Und wir stehen zusammen, um allen, die von fremdenfeindlicher Gewalt bedroht sind, zu sagen: Ihr seid nicht allein.

Vor einigen Monaten habe ich mit Betroffenen und Angehörigen von Opfern der Attentate gesprochen. Eben gerade bin ich mit Bürgerinnen und Bürgern zusammengetroffen, die sich miteinander für die Keupstraße engagieren. Sie alle haben viel zu erzählen und viele Fragen: Wie sicher kann ich mich fühlen in meinem eigenen Land? Warum ist es jahrelang nicht gelungen, die Täter zu fassen? Warum dauert die juristische und politische Aufarbeitung so lange? Warum haben Polizei und Behörden ausländerfeindliche Tatmotive ausgeschlossen? Warum haben sie dem so wenig beigemessen, was die Betroffenen, die Angehörigen zu sagen hatten? Es sind Fragen, die uns aber auch alle angehen. Auch ich zählte damals zu jenen Bürgern, die immer wieder in der Zeitung lasen, wie die Fahnder scheiterten. (...)

Inzwischen sehen wir einiges klarer. In Untersuchungsausschüssen in den Ländern und im Bund, auch im laufenden Gerichtsverfahren wird um Aufklärung gerungen. Alle Fraktionen im Bundestag haben zu Beginn der neuen Legislaturperiode die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch einmal bekräftigt. Auch journalistische Recherchen haben einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet. Es ist wichtig, dass unsere Institutionen dem gewalttätigen Extremismus mit geschärften Sinnen und den geschärften Waffen des Rechtsstaates begegnen. Und es ist wichtig, dass weiter aufgeklärt wird, wo Fragen bleiben.

Wir Demokraten stehen weiter zusammen und bekräftigen unser Versprechen: Wir schenken denen, die Hass und Gewalt verbreiten, nicht unsere Angst. Wir machen sie nicht größer, als sie sind. Aber wir reden sie auch nicht klein. Es sind nur wenige. Doch was sie zerstören wollen, ist uns unendlich wertvoll. Es ist das, was unser Land ausmacht – der Respekt vor der Würde des Menschen, das ""Ja"" zu den Menschenrechten, zur Achtung des Rechts und zu einem Leben in Pluralismus und Offenheit. Wer Menschen, die selbstverständlich hier leben, all dies abspricht oder ihnen gar Gewalt antut, spricht nicht für dieses, für unser Deutschland! Ich danke allen Menschen, die für andere einstehen, wo extremistische Aggression sich zeigt. (...)"

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